MILLIARDEN
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toi, toi, toi!
Transitzonen in Flughäfen haben eins gemeinsam, ganz gleich, in welchen sich der Mensch gerade aufhält. Sie verdeutlichen eher nebensächlich, wie seltsam mobil das Leben ist. Ben Hartmann von der Berliner Band Milliarden sitzt während des Gesprächs übers neue Album „LOTTO“ in einem solchen Übergangsbereich fest. Der Flieger von Madrid zur Spreestadt verspätet sich. Theoretisch passiert um ihn herum gerade nicht viel. Spannung liegt dennoch in der Luft. Gerade an Orten wie diesen. Es wird hin und her gereist, von Süd nach West, von Kontinent zu Kontinent, von einer Wahrnehmung zur nächsten. Vielleicht ist tatsächlich etwas dran am geflügelten Wort: Vorfreude ist die schönste Freude. Zum einen ist nie gewiss, was auf der anderen Seite der Reiseroute momentan ist. Zum anderen steigt die Neugier aufs Weggehen mit jedem Ankommen von vorne. Das temporäre Verweilen im staatenlosen Areal schafft somit den perfekten Rahmen für den Gedankenaustausch über die neuen Songs der Milliarden. In denen geht es um den naiven Zustand im Leben, um die gespannte Erwartung. Ben Hartmann und Johannes Aue, die beiden Platzhalter der Band, machen im Transitbereich Chancen aus. Das leuchtet ein: Musikmachen ist seit jeher ein Glückspiel. In manchen Protagonisten der Pop-Historie lässt es regelrechte Spielsucht erkennen. Hartmann und Aue gibt das ungeschriebene Blatt von morgen ein gutes Gefühl. Der Albumtitel „LOTTO“ beschreibt entsprechend vielmehr die Sehnsucht nach dem Ungewissen als das eigentliche Glücksspiel. Der wirkliche Hauptgewinn kann nie Geld sein. Es ist ein Abfallprodukt von Arbeit.
neun richtige
Offenherzig, beinahe eingängig steht der Song „Das
erste Mal“ am Anfang des „LOTTO“-Wegs. Frei von krachenden
Rabauken-Gitarren und doch radikal drückt das Stück den Wunsch danach
aus, Zeit dehnen zu können. Die Lust darauf, Fristen- und Termindiktaten
zu entkommen, mag arglos erscheinen. Die Utopie, Vergänglichkeit mit
einem Lachen wahrzunehmen, birgt jedoch die Chance, zu ihr tanzen zu
können. Ob jemand eine Weisheit in dem Text ausmachen möchte, hängt
freilich vom Ohr des Betrachters ab. Indes ist die Vorstellung, kein
Sklave von Aktiengesellschaften zu sein, denen die Zwangsdigitalisierung
jedes einzelnen Menschen zur Gewinnmaximierung dient, reizvoll. Wollen
wir hässliche Markt-, Produktions- und Endgeräte-Zombies sein? „LOTTO“
reißt digital-monochrome Oberflächen mit der Lust auf, mal draußen zu
schlafen, so als wär's „Das erste Mal“. Und mit Liebe. Aus der erwuchsen
in den vergangenen Jahren Wut und Wunsch danach, über Pazifismus und
eine neue Trauerkultur zu singen. Gegenwärtig werden Diskurs,
Sensibilität und gesammeltes Wissen offensichtlich doppelmoralisch
verkannt. Wir wollen uns dümmer machen, als wir sind. Milliarden finden
diesen Zustand unerträglich, aber nicht unumkehrbar. Chancen lassen sich
aufzeigen. Die „Psychose“ im luftig schwingenden Rumba-Mantel kann den
Weg aus der giftintensiven Selbstmedikation weisen. „Sag nie die
Wahrheit“ ist ein Post-Punk-Manifest, das mit einer Sprachform spielt,
die mit der Realität, wie wir sie uns erklären, bricht. Es geht ums
Falsche in Spielregeln, Heuchelei und Liebe.
zusatzzahl
Der Albumaufbau zieht förmlich rein ins Dialogfeld der
Gewichtung und Gegengewichtung und in den Wecker-Alarm. Ergriffenheit
folgt ihm auf dem Fuße. „Fürchte dich nicht“ und „Sternenflimmern“
ergeben beinahe eine Einheit, der Übergang ist klug arrangiert. Worte,
die mit einem Gedicht Jörg Fausers umgehen, gibts nur im vorderen Teil
des ersten der beiden Lieder zu hören, den großen Rest erzählt die
Musik. Plötzlich entstehen riesige Panoramen des unausgesprochenen
Selbstwahrnehmungsaustauschs zwischen Songmachern und Zuhörern. Der
zweite Song des Liedpaars beginnt, wie der vorherige endete, wortlos.
Großes Lob gebührt an dieser Stelle dem Trommler, der den live
gespielten Drum&Bass-Puls einer unbestimmten Größe entgegenschlägt.
Der Text der Sternennummer will weg von weltlicher Wörterkakofonie, hin
zum lyrischen Ausdruck. Wäre „LOTTO“ eine Figur, hätte sie keine Lust
mehr auf den vergewaltigten und bis zur Unkenntlichkeit verbrauchten
Begriff Solidarität. Es zöge ihn zur Sensibilität. „Deine Musik“ erzählt
von einer Heimat, die ein Sound, ein Geruch oder eine Person ist -
gleichsam Schutzraum bietend und gewaltvoll. Die Kinderliedreimsilben
„Pa pa papapa“ illustrieren das Paradoxon am Song-Ende geradezu
plastisch. Der innewohnende Sound einer Jugend geht in „Mantel“ über.
Das Sterben eines Elternteils hat die Pubertät geklaut und die Teilnahme
an einer Trauerkultur losgetreten, die erstickt. Alle Relikte, die auf
jene geliebte Person verweisen, sind von Schmerz und Ohnmacht besetzt.
Erst als das Erzähler-Ich merkt, dass es ein Glücksfall ist, ausgeraubt
zu werden, wirft es einen anderen Blick auf die lebenslange Trauerdroge.
Davon wegzukommen bedeutet, atmen zu können. Am Ende fleht es: Räumt mir satten Ratte den Keller bitte leer!
gewinnausschüttung
Das „LOTTO“-Album berichtet Profundes vom
Kriegsschauplatz Sex. Es kann dem Frühlingshaften, das geborstenen
Illusionen naturgemäß folgt, viel abgewinnen. Alles steht zur
Disposition, immer und überall. Was heute gegeben ist, nimmt morgen eine andere Form an; weniger greifbar, fast unsichtbar. So gesehen wurde das neue Milliarden-Album „LOTTO“ klug betitelt. Die „richtigen“ Zahlen von heute sind die „falschen“ von morgen. Oder, um es aufs Langspielplattenformat zu übertragen: Das Musikmachen spielt auf Zeit
und vermeintlichen Gewinn, sehnsüchtig voller Vorfreude. Das Spielen mit
Möglichkeiten zeichnet den eigentlich sandkornkleinen Song groß. Haben,
halten, loslassen, neufinden – die „LOTTO“-Songs haben ihren Ursprung
in dem Begehr, etwas sagen zu wollen, das man versteht, ohne zu wissen,
was es ist. Ben und Johannes sind weniger Autoren, die Geschichten
kreieren und konstruieren als vielmehr Musikmaler ihrer Erlebniswelten.
Da das Leben kein Vakuum duldet, gibt´s auf „LOTTO“ verstörend schöne
Bilder zu entdecken, vielschichtig und doch sorglos-mutig gepinselt. Wie
beim ersten Mal.