Warum das Karlsruher Schloss ein sehr lebendiges Symbol
für Kultur, Liberalität, Toleranz – und Demokratie ist
Hoch in den Bergen. Allem entrückt. Pracht- und prunkvoll. Strahlend weiß, märchenhaft. So wurde Neuschwanstein zum Inbegriff der Antwort auf die Frage „Was ist ein Schloss?“
Aus heutiger Perspektive sind Schlösser, egal ob das vergleichsweise schlichte Sans Soucis Friedrichs des Großen oder Versailles, das aller ökonomischen Vernunft spottende Einfamilienheim Louis’ XIV., undemokratische Bauten. Die zu Stein gewordene Botschaft an das Volk: Du kommst hier nicht rein.
Übrigens kein Phänomen früherer Zeiten. Wer „Cumhurbaşkanlığı Külliyesi“ oder „Kap Idokopas“ googelt, wird erfahren, was und wer gemeint ist.
Also: Alle Schlösser sind Monumente gegen den Liberalismus?
Nein. Nicht alle.
Wer es nicht glauben mag, der reise nach Karlsruhe.
Auch dort steht ein Schloss. Erbaut von Markgraf Karl Wilhelm von Baden-Durchlach. 200 Jahre lang, bis 1918, residierten hier noch seine Nachfahren. Es trägt alle architektonischen und künstlerischen Insignien, die ein barocker Regent zeigen musste, um seinen Standesgenossen ebenbürtig zu sein, wenn sie mal auf eine hochadelige Sause vorbeischauten.
Jedoch: Von oben betrachtet offenbart sich, dass dieses Schloss – soweit im Geist der damaligen Zeit möglich – kein luxuriöses Bollwerk von dero Gnaden gegen den bürgerlichen Pöbel sein sollte.
Die meisten Schlösser – allen voran besagtes Neuschwanstein – sind nur über eine Straße, meist eine Prachtallee, erreichbar. In Karlsruhe hingegen laufen 32 Straßen (!) auf das Schloss zu. 32 Straßen, die fächerförmig angeordnet sind. Weshalb sich Karlsruhe heute das Attribut „Fächerstadt“ zugelegt hat.
Wer je durch Karlsruhe geht, wird zwei Eindrücke mitnehmen. Erstens: Diese Straßen ermöglichen vom Stadtkern aus von beinahe jedem Punkt einen ungehinderten Blick auf das Schloss. Zweitens: Diese Straßen führen gefühlt nicht vom Schloss weg – sondern zum Schloss hin. Zwar gewiss nicht gemeint als Einladung an die Untertanen „kommt gern mal auf einen Schoppen vorbei“. Wohl aber als Ausdruck von Offenheit und liberaler Gesinnung.
Der erstaunliche Beweis dafür liegt schwarz auf weiß im baden-württembergischen Generallandarchiv: Der Markgraf wollte keine Splendid isolation – nein, vielmehr wollte er Nachbarn. Also schrieb er ihnen eine für damals unglaubliche Einladung, die genau im Jahr des Baubeginns des Schlosses, 1715, veröffentlich wurde:
„Freiheiten, Privilegien und sonderbare Begnadigungen, womit der durchlauchtigste Fürst und Herr Carl diejenigen, die hinkünftig bei und neben dero Neu-Erbauenden Lust-Haus Carlos Ruhe sich niederlassen werden anzugeben gedenket“.
Der Inhalt der fünfseitigen Einladung dürfte seinen Herrscherkollegen vor Schreck den Champagner aus der behandschuhten Hand gehauen haben.
Nicht nur, dass dem lutherischen Carl völlig egal war, welcher Religion die Zugezogenen angehörten. Nein – er schenkte ihnen Grundstücke, Baumaterial, gewährte Steuererlass. Zudem pfiff er auf die Leibeigenschaft, die in Württemberg erst 100 Jahre später abgeschafft wurde. Ein revolutionärer Akt.
Zudem garantierte er, dass dies kein Lockangebot war, sondern auch noch nach 20 Jahren fortgelten sollte. Bei einer Lebenserwartung von weniger als 40 Jahren im 18. Jahrhundert war dies ein gräfliches Ehrenwort gegenüber der folgenden Generation.
Wie modern er dachte, zeigt Paragraph 14 seines Privilegien-Briefes. Weit entfernt von Corona und Lockdown ordnete er an: Support your local dealers.
Und zum Schluss verfügte er – in die heutige Sprache übersetzt: Jeder Verantwortliche (Beamte gab es damals noch nicht) ist verpflichtet, die neuen Nachbarn stets freundlich und hilfsbereit zu behandeln. Ein Passus, der dem – zumal in Karlsruhe streng gehüteten – Grundgesetz leider fehlt.
Nun eine Hypothese: Da er dieses für das barocke Weltbild ungeheuerliche Edikt genau im Jahr des Baubeginns seines „Lust-Hauses“ erließ, wird seine Geisteshaltung höchstwahrscheinlich auch in die Anlage des Schlosses eingeflossen ein. Womit wir wieder bei den Fächer-Straßen sind…
Noch eine Spekulation: Es ist bewiesen, dass die Traumata des 30jährigen Krieges noch heute unterschwellig unsere Mentalität prägen. Warum soll diese psychologische Langzeitwirkung nicht auch im Positiven funktionieren?
Karlsruhes Seele ist wie die kaum einer anderen Stadt zutiefst von der Leidenschaft für Kultur-Liberalismus geprägt. Während in manch anderer deutschen Stadt eher Kultur-Liberallala zelebriert wird, entfaltet sich hier eine nachhaltig hochkreative Kulturszene, die mit Lust und Leidenschaft alles zwischen klassischen Gemälden in der Staatlichen Kunsthalle und hochkomplexen Installationen im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) inszeniert.
Das Schloss ist heute Sitz des Badischen Landesmuseums. Dessen „Expothek“ gilt international als eines der innovativsten Präsentationskonzepte. Und: Hier darf nicht nur jeder rein – sondern hier soll jeder rein. Auch der umgebende idyllische Flaniergarten steht allen offen.
Einmal im Jahr versammeln sich Tausende zu den „Schlosslichtspielen“. Ein weiterer Höhepunkt der Karlsruher Kultur. Wenn dann die Fassade zur Projektionsfläche spektakulärer Licht-Inszenierungen international renommierter Künstler wird – so darf wohl zurecht behauptet werden – hätte das Carl dem Klugen wohl gefallen.
Museum, Projektionsfläche, Flanier-Garten, ein Fächer aus 32 Straßen…
Demokratisch. Was zu beweisen war.